Offener Brief zur Hilfsmittelversorgung

Offener Brief der BAG SELBSTHILFE Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen, e.V. RehaKIND – Internationale Fördergemeinschaft Kinder- und Jugendrehabilitation e.V., Bündnis Wir versorgen Deutschland e.V. (WvD), Ottobock HealthCare Deutschland GmbH

Wir schreiben Sie heute an, weil wir die Entwicklung in der Hilfsmittelversorgung mit Sorge verfolgen und daher grundlegende Reformen anmahnen wollen.

Mit Begeisterung haben wir die Leistungen der Athletinnen und Athleten bei den Paralympischen Spielen in Paris verfolgt. Doch ohne eine leistungsstarke Hilfsmittelversorgung wäre schon der Alltag dieser Sportler geprägt von Einschränkungen und Hemmnissen. Viele von ihnen könnten weder sitzen noch stehen oder ohne Hilfe eigenständig unterwegs sein. Die adäquate Versorgung mit medizinischen und orthopädischen Hilfsmitteln ebnet nicht nur Sportlerinnen und Sportlern, sondern allen Menschen mit einer Behinderung oder körperlichen Einschränkung den Weg in ein selbstbestimmtes Leben.

Rund 7,9 Millionen Menschen mit schwerer Behinderung und 4,3 Millionen Menschen in ambulanter Pflege sind auf eine funktionierende Hilfsmittelversorgung angewiesen. Der GKV-Spitzenverband hat für 2023 rund 32 Millionen Versorgungsfälle gezählt, für die gerade mal 3,87 % des Gesamtbudgets der GKV ausgegeben wurden.

Wir brauchen mehr denn je eine funktionierende Hilfsmittelversorgung. Doch das System der Hilfsmittelversorgung in Deutschland krankt und braucht eine grundlegende Reform.

  • Der Fachkräftemangel in Deutschland erfordert, dass wir Menschen mit Behinderung unbürokratischin den Arbeitsmarkt integrieren können.
  • Eltern von behinderten Kindern müssen die Chance haben, ihrem Beruf nachgehen zu können.
  • Die Generation 65 plus wird zunehmend der Immobilität und der Pflegebedürftigkeit preisgegeben, obwohl ein Altern in Würde und Selbstständigkeit für viele möglich ist.
  • Rund 95 gesetzliche Krankenkassen treiben die Bürokratie mit hunderten Verträgen ungebremstvoran, was die Versorgung undurchsichtig, langsam und teuer macht.

Das sind nur einige Punkte, die zeigen, dass das System der Hilfsmittelversorgung dringend zukunftsfest gemacht werden muss.

Eine funktionierende Hilfsmittelversorgung ist eine Investition in die individuellen Potenziale vieler Menschen und in die Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft. Sie ebnet Menschen den Weg in ein aktives Leben in Familie, Beruf und Gesellschaft und ermöglicht ihnen, in Würde und größtmöglicher Selbstständigkeit zu altern. Sie reduziert zudem die Dauer von Krankenhausaufenthalten und die Zahl teurer operativer Eingriffe. Damit trägt sie dazu bei, die Kosten im Gesundheitssystem zu senken.Der Standort Deutschland ist – noch – weltweit führend in Entwicklung, Herstellung und Versorgung konservativ-technischer Hilfsmittel. Täglich forschen und entwickeln die rund 157.000 Mitarbeiter in der deutschen Medizintechnik daran, wie sie einen Beitrag zu einem selbstbestimmten Leben leisten und die ambulante Pfl ege in Deutschland bezahlbar machen können. Diese Potenziale müssen optimal genutzt werden. Dafür brauchen wir dringend eine grundlegende Reform der Hilfsmittelversorgung – jetzt!

Die Hilfsmittelversorgung jetzt zukunftsfest machen!

Fünf Handlungsfelder zur Stärkung der Hilfsmittelversorgung in Deutschland:

Ambulante Hilfsmittelversorgung stärken
Die Hilfsmittelversorgung ermöglicht Patienten ein selbstbestimmtes Leben. Ambulante Lösungen sind kostengünstiger als stationäre und müssen bedarfsorientiert gefördert und erstattet werden. Auch Beratungs- und Therapiemanagementangebote sind notwendig, um das Potenzial der Hilfsmittelversorgung voll auszuschöpfen, und müssen daher stärker als bisher in die Regelversorgung überführt werden.

Verfügbare Fachkräfte optimal einbinden
Gerade mit Blick auf den zunehmenden Fachkräftemangel müssen alle verfügbaren Fachkräfte optimal in die Versorgung eingebunden werden. Dafür muss sich die Finanzierung von Versorgungsleistungen an der Qualifi kation des Fachpersonals und nicht an der „Zuständigkeit“ des Kostenträgers orientieren. Kooperationen, Interprofessionalität und Interdisziplinarität müssen aktiv gefördert werden.

Potenziale der Digitalisierung nutzen
Die Potenziale digitaler Verwaltungsprozesse müssen besser genutzt werden, um Hilfsmittel schnellerbereitzustellen. Versorger können sich über die Telematikinfrastruktur vernetzen und Leistungen effi zienter ins Therapiemanagement integrieren. Dafür sind gesetzliche Rahmenbedingungen zur Beschleunigung der Digitalisierung erforderlich.

Entbürokratisierung vorantreiben
Das ausufernde Vertragswesen der Krankenkassen muss verschlankt werden. Durch die Schaffung eines einheitlichen Rahmenvertrags auf Basis der gesetzlich definierten Standards der Regelversorgung wird die Autonomie der Vertragspartner gewahrt und gleichzeitig ein wichtiger Beitrag zur Entbürokratisierung und Versorgungssicherheit geleistet.

Hilfsmittelversorgung als Grundpfeiler der Gesundheitsversorgung anerkennen
Die Hilfsmittelversorgung erfordert medizinische Expertise für die ganzheitliche Betreuung bei Auswahl, Fertigung, Anpassung und Anwendung der Hilfsmittel. Sie muss als medizinische Disziplin anerkannt werden, die im Zusammenspiel mit Ärzten und Therapeuten individuelle Lösungen für Patienten schafft und im Dialog mit Politik, Patienten und Kostenträgern Versorgung mitgestaltet.

Wir bitten Sie, die angesprochenen Handlungsfelder anzupacken und das System der Hilfsmittelversorgung in Deutschland durch grundlegende Reformen jetzt zukunftsfest zu machen.

Für die unterzeichnenden Organisationen:

BAG SELBSTHILFE Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen e.V.
RehaKIND – Internationale Fördergemeinschaft Kinder- und Jugendrehabilitation e.V.
Bündnis Wir versorgen Deutschland e.V. (WvD)
Ottobock HealthCare Deutschland GmbH

Der Brief ist adressiert an

Bundesministerium für Gesundheit:
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach
Staatssekretär BMG Thomas Steffen
Staatssekretätin BMG Dr. Antje Draheim
Parlamentarische Staatssekretärin Sabine Dittmar

Bundesministerium für Arbeit und Soziales:
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil
Staatssekretär Dr. Rolf Schmachtenberg
Parlamentarische Staatssekretärin Kerstin Griese

Deutscher Bundestag:
MdBs – Mitglieder im Ausschuss für Gesundheit
MdBs – Mitglieder im Ausschuss für Arbeit und Soziales

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